Übersicht Integrationsprojekte

Über den Tellerrand

Offene Küche

Die Organisation „Über den Tellerrand“ bringt Menschen aus verschiedenen Kulturen durch Kochangebote miteinander ins Gespräch. Ihr Motto: make the world a better plate.

 

Ob Grünkohl, Baba Ghanoush oder Tagliatelle – die Gerichte, die Menschen weltweit kochen, mögen zwar sehr unterschiedlich sein, in allen Kulturen ist das Essen jedoch viel mehr als eine reine Nahrungsaufnahme: Rund um den Planeten wird bei den Mahlzeiten erzählt, diskutiert, gelacht und nebenbei auch das Gemeinschaftsgefühl genährt.

Diesen gemeinsamen Nenner macht sich Über den Tellerrand e.V. bereits seit 2013 zunutze, um den Austausch zwischen den Kulturen zu fördern und Menschen mit und ohne Fluchterfahrung die Kontaktaufnahme zu erleichtern. Der Verein bietet vielfältige Veranstaltungsformate rund um das gemeinsame Kochen, bei denen sich die Teilnehmer:innen auf Augenhöhe begegnen und wechselseitig die Geschmackswelten jenseits des eigenen Tellerrands erkunden können. Das Hauptquartier ist seit 2015 der Kitchen Hub in Berlin, mittlerweile sind jedoch in Deutschland, Österreich, Tschechien und Kolumbien rund 35 weitere Über den Tellerrand-Satelliten aktiv.

 

Kitchen Hub, Berlin: Gespräche am Herd


 Beim kollektiven Zubereiten und Verspeisen der Gerichte wird trotz der Heterogenität der Zutaten eine weitere Gemeinsamkeit erfahrbar: Im Geschmack verdichten sich für uns alle oft elementare Erinnerungen, ganz wie es Marcel Proust in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschreibt. Für den Protagonisten beschwört der Geschmack einer in Lindenblütentee getunkten Madeleine die ganze Welt seiner Kindheit herauf. Geschmack ist also nicht einfach ein Sinneseindruck, der sich für einige Momente auf die Zunge legt, er ist eng verwoben mit individuellen und kollektiven Geschichten, etwa wie und zu welchem Anlass in der eigenen Familie bestimmte Gerichte zubereitet wurden, und speichert deshalb auch auf intensive Weise Heimatgefühle. Beim Kommunizieren rund um das Thema Essen öffnen sich also immer weitere Türen, die neue Einblicke in die Kultur der anderen ermöglichen.


Der Duft der weiten Welt [Foto: © Hans Sauer Stiftung]

Zusätzliche Verstärkung erhielt Über den Tellerrand durch das mobile Kochstudio Kitchen on the Run. Hierfür ließen die Initiatoren/Initiatorinnen in Kooperation mit dem Fachbereich Architektur der TU Berlin einen Frachtcontainer zu einem „Integrationsinkubator“ umrüsten. Mit diesem Container reiste das Team 2016 fünf Monate durch Europa, um die Idee einer offenen und vielfältigen Gesellschaft an neue Orte zu tragen. Sowohl Geflüchtete als auch Ortsansässige konnten hier als Gastgeber agieren und den anderen Einblicke in ihre Kultur geben. Rund 20 Teilnehmer halfen bei der Zubereitung der Gerichte, die schließlich an einer langen Tafel gemeinsam verspeist wurden.

 

In den folgenden drei Jahren tourte der Küchencontainer durch deutsche Kleinstädte. Das Team blieb jeweils sieben Wochen an einem Ort, um dort das interkulturelle Zusammenleben erfahrbar zu machen und gleichzeitig in Kooperation mit bereits existierenden Initiativen eine aktive Community aufzubauen, die auch nach Abreise des Containers Koch-Events und andere Begegnungen organisiert.

Kulinarik & coole Sounds

 

Die Dokumentationen dieser Reisen verdeutlichen, was solche Kochabende für Geflüchtete bedeuten können. Khaled, ein 50-jähriger Syrer, erzählte dem Team, wie der IS seine Stadt angriff und alles zerstörte, was sich seine Familie aufgebaut hatte. Da die Kinder oft vor Hunger weinten, kochten sie in ihrer Not Blätter von den Bäumen. Dann gelang ihnen endlich die Flucht über die Türkei nach Deutschland. „Wir haben alle Leute angelächelt, viele angesprochen, zu uns zum Tee oder zum Essen eingeladen und unseren Nachbarn Gerichte aus unserer Kultur gekocht und bei ihnen vor die Tür gestellt. Aber nichts hat geklappt”, erklärte Khaled. Seine Familie litt sehr darunter, keinen Anschluss zu finden, und so erwogen sie drei Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland sogar, zurück in die Türkei zu ziehen. Dann machte der Küchencontainer in ihrer Nähe Halt. Sie verbrachten dort viel Zeit mit anderen und fühlten sich endlich als Teil einer Gemeinschaft. Als Khaled eines abends nichts essen wollte, fragte ihn das Team nach dem Grund. Khaled antwortete: „Ich bin vor Zufriedenheit satt.“

 

Die Dokumentationen beleuchten viele besondere Momente: In Duisburg probte zum Beispiel der Menschenrechtschor in der Kirche nebenan, während im Container zwei irakische Familien das Kochen anleiteten. Trotz strömenden Regens brachte der Chor sein Klavier in den Container und sang dort für eine Viertelstunde die Paragraphen der UN-Menschenrechtserklärung – eine Woche später traten drei irakische Sänger in der Chor ein.

Kitchen on the Run, Tour 2017 [Foto: © Ute Peppersack]

Die Corona-Pandemie hat die Aktivitäten von Über den Tellerrand natürlich stark eingeschränkt, aber das 12-köpfige Team in Berlin schmiedet schon Pläne für die nächste Reiseroute des Containers und bereitet neue Begegnungsformate vor, die zum Beispiel Familien zusammenbringen sollen. Zusätzlich bietet die Organisation, die politisch unabhängig und überkonfessionell agiert, auch vielfältige Unterstützung für Geflüchtete, ob beim Neuanfang in Deutschland oder beim Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Aber auch die hiesige Gesellschaft profitiert in hohem Maße von ihrem Engagement. Die Communities, die sich durch die Impulse der Initiative zusammenfinden, halten allen anderen vor Augen, dass Diversität wechselseitige Bereicherung bietet und dass ein generations- und schichtenübergreifendes Miteinander ungeahnte Qualitäten birgt. Was viele für eine absolute Utopie halten mögen, erweist sich im Container, im Kitchen-Hub und an vielen anderen Treffpunkten als lebbare Realität.




Introbild:

Kitchen on the Run [Foto: © Ute Peppersack]



Saatguttüte: Essbare Chrysantheme