mimycri

Metamorphosen

Die Berliner Non-Profit-Organisation „mimycri“ produziert Taschen aus gestrandeten Schlauchbooten und setzt sich für eine inklusive Wirtschaft und Gesellschaft ein.

 

Wie fühlt es sich an, eine Tasche am Körper zu tragen, die aus dem Gummi eines gestrandeten Flüchtlingsboots hergestellt wurde? Das Material weiß, welches Drama sich in diesem Boot abspielte – kann man es dann in Form eines modischen Accessoires im Alltag mit sich herumschleppen? Die Berliner Non-Profit-Organisation mimycri verwebt die Produkte mit einer zukunftsgewandten Geschichte, durch die ihr Gebrauch durchaus Sinn macht.

 

Die Idee für mimycri wurde auf Chios geboren, wo die beiden Gründerinnen Vera Günther und Nora Azzaou seit 2015 mehrfach freiwillig arbeiteten und geflüchtete Menschen am Strand in Empfang nahmen. Beim Säubern des Strandes blieb ihr Blick an den Schlauchbooten hängen, die hier als Müll herumlagen. So entstand der Plan, aus dem Weggeworfenen und Nutzlosen zuhause in Berlin etwas Neues und Nützliches herzustellen und hierbei die handwerkliche und gestalterische Expertise von Menschen mit Fluchterfahrung einzubinden, etwa von Abid Ali aus Pakistan, Khaldoun Alhoosain aus Syrien oder Elahe Saji aus dem Iran. Sie fingen bei mimycri zu arbeiten an, lernten dabei Deutsch, verdienten Geld und konnten aus den Flüchtlingsunterkünften in eigene Wohnungen ziehen.

 

mimycri nutzt die Expertise von Menschen mit Fluchterfahrung bei der Taschenproduktion [Foto: © mimycri]

 

Für die Produktentwicklung hat mimycri bewusst auf das Feedback ihrer Community gesetzt: „Als wir unsere Idee anfangs über Facebook kommunizierten, meldeten sich verschiedene Leute mit und ohne Fluchterfahrung, die am Designprozess mitarbeiten wollten und wertvollen Input gaben.“ So entstand ein erster Prototyp, den eine Produktdesignerin zusammen mit Schneidern weiterentwickelte, bevor eine Taschendesignerin die finalen Produktvarianten entwickelte. „Die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, die zu einem konkreten Produkt führt, verbindet auf besondere Weise, denn hierbei entwickelt sich ein neues Verständnis füreinander“, erklärt Vera Günther.

 

Das mimycri-Logo lässt sich sowohl als Blatt als auch als Schmetterling lesen. Es visualisiert das Mimikry-Prinzip von Tieren, die ihr Äußeres verwandeln können, und nutzt es als Analogie: Das Schlauchboot-Gummi lässt sich als Müll oder als wertvolle Ressource betrachten. So steht das Zeichen vor allem für Perspektivwechsel und verweist damit zugleich auch auf die Möglichkeit, das Thema Migration aus einem anderen Blickwinkel zu erkunden: Herausforderungen lassen sich ebenso als Chancen wahrnehmen.

 

Die Taschen erzählen Geschichten und eröffnen den Dialog über Migration [Foto: © mimycri]

 

Die Taschen und Rucksäcke sollen dabei als „communication starters“ dienen. „Manche finden die Idee zuerst makaber, aber das ist Teil des Konzepts“, kommentiert Vera Günther. „Dadurch, dass mimycri keine Wohlfühlgeschichte ist, sondern aneckt, fördert es eine andere Auseinandersetzung. Das authentische Material löst etwas anderes aus als digitale Bilder.“ Was sonst nur an den Rändern Europas geschieht, in bequemer Entfernung, rückt durch die Taschen hautnah heran. „Unsere Kund:innen berichten uns, dass sie selber nun bewusster mit dem Thema Migration umgehen und mit anderen mehr darüber sprechen.“ Wer eine solche Tasche mit sich trägt, trägt also auch eine Haltung zur Schau und nimmt Teil daran, diese Geschichte über Wandelbarkeit weiterzuerzählen.

 

Die beiden Initiatorinnen, die sich im Studium kennenlernten, wurden bereits mit vielen Auszeichnungen geehrt, etwa dem Deutschen Integrationspreis (2017) oder dem Titel Kultur- und Kreativpiloten der Deutschen Bundesregierung (2018). Vor der Gründung von mimycri arbeitete Nora Azzaou als Innovationsprojekt-Consulterin für Unternehmen, während Vera Günther die Bundesregierung im Bereich nachhaltige Entwicklung beriet.

 

Seit Sommer 2020 kooperiert mimycri mit der griechisch-luxemburgischen Organisation ANKAA, die sich zum Beispiel für die Ausbildung von Menschen mit Fluchterfahrung einsetzt und sie beim Einstieg in den Arbeitsmarkt unterstützt. Zu diesem Zweck verlegte mimycri seine Produktion nach Athen, wo nun rund 10 Personen die Taschen herstellen. „Durch diese Kooperation schaffen wir mehr Arbeitsplätze, die direkt mit Trainingsmöglichkeiten verknüpft sind und verringern unseren ökologischen Fußabdruck“, erklären die Initiatorinnen.

 

Der Gummimüll wird in stilvolle Taschen verwandelt [Foto: © Joel Thomas]

 

mimycri bietet jedoch mehr als Taschen mit einer besonderen Geschichte. Die Organisation setzt sich – auch durch verschiedene Kampagnen – für eine inklusive Wirtschaft und Gesellschaft ein, in der alle Menschen Chancen auf einen Arbeitsplatz haben und Ressourcen bestmöglich genutzt werden. „Die Politik sollte die Bedingungen für wertstiftende Unternehmen endlich verbessern, damit sie sich auf dem Markt leichter gegen rein profitorientierte Unternehmen behaupten können“, erklärt Vera Günther. Kurz vor den Europawahlen im Frühjahr 2019 lud mimycri gemeinsam mit der Bürgerinitiative Pulse of Europe 18 Menschen ein, um über ihre Visionen für Europa zu diskutieren – hierbei entstand auch eine EU-Flagge, die von den Teilnehmer:innen aus dem Schlauchbootmaterial handgefertigt wurde.

 

Darüber hinaus geben die beiden Gründerinnen durch Vorträge und Workshops ihr Knowhow im Bereich Co-Creation und Nachhaltigkeit an Unternehmen und Organisationen weiter. Man könnte es also auch so sehen: mimycri ist nicht in erster Linie einen Taschenmarke, sondern vor allem eine starke Stimme, die auf vielfältige Weise erzählt, wie sich ökologische und soziale Aspekte auf innovative Weise miteinander verweben lassen – zugunsten einer besseren Zukunft.

 

 

Introbild:

[Foto: © mimycri]

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